Trauma-Theorie

 Georg Tetmeyer, Liegende, Corten-Stahl, 2009

Symptome

Viele Traumen können uns nicht bewusst werden, weil sie sich schon in frühester Kindheit ereigneten oder weil wir sie abspalten mussten, um zu überleben. Typischerweise fühlt man nichts und kann sich auch an nichts mehr erinnern – und doch geht es einem nicht gut. Die Traumen melden sich häufig über Symptome – körperliche wie psychische; hinzu kommen soziale Symptome, z.B. wenn in Beziehungen immer wieder dieselbe fatale Dynamik ihren Lauf nimmt. Oft will man die lästigen und scheinbar unverständlichen Symptome zunächst einfach nur weghaben. Zu verstehen, dass sich über die Symptome ein traumatisierter Anteil von uns selbst meldet, der uns etwas über unsere Lebensgeschichte sagen kann, ist ein wichtiger Schritt in der Traumaarbeit.

Psychotrauma

Die gängige Vorstellung, Trauma sei ausschließlich ein zwar katastrophales, jedoch selten vorkommendes Einzelereignis, d.h. ein Schocktrauma, ist heute überholt. Das Psychotrauma hat seine Wurzel meist in traumatisierenden Beziehungen, denen Kinder (und Erwachsene) oft jahrelang ausgeliefert sind. Die meisten Traumatisierungen im Kindheitsalter sind bedingt durch Vernachlässigung – gerade auch in Wohlstandsfamilien.
Kinder brauchen von Natur aus Bindungsbeziehungen; sie können nicht anders als sich fest binden, um zu überleben. Wenn beispielsweise die Mutter jedoch selbst traumatisiert ist, dann kann sie die Bindung, welche das Kind sucht, nicht ertragen. Sie bleibt – obwohl sie es äußerlich versorgt – emotional für das Kind unerreichbar. Das Kind erleidet ein Bindungstrauma, welches sich über die ganze Kindheit erstreckt und leider nicht selten wegen der fehlenden Fürsorge verschiedene weitere Traumen, etwa durch Misshandlungen oder sexuelle Gewalt anderer Täter, nach sich zieht.

Spaltung als Folge

Trauma wirkt extrem: Trauma tut nicht einfach nur weh – vielmehr spaltet es uns psychisch auf in einzelne Persönlichkeitsanteile, welche, wenn sie keine innere Anbindung haben, unabhängig voneinander agieren. Spaltung als Phänomen ist in der psychologischen Literatur bekannt, eine Systematik und ein Modell der psychischen Spaltungen entwickelt zu haben, ist jedoch das Verdienst des Psychologieprofessors Franz Ruppert, München. Er unterscheidet einen durch das Psychotrauma entstehenden traumatisierten Persönlichkeitsanteil, einen dazu kompensatorisch wirkenden Überlebensanteil, und einen verbliebenen gesunden Anteil (vgl. www.franz-ruppert.de, dort auch Literatur).
Trauma kann so massiv wirken, dass es die Ich-Entwicklung beeinträchtigt und die Festigung der Identität stört. Um in einem Täterumfeld überleben zu können, nimmt das Opfer außer der psychischen Spaltung weitere erstaunliche Anpassungsleistungen vor, die bis hin zur psychischen Mimese und Mimikri gehen können. Nach meinem Dafürhalten ist deshalb Rupperts Spaltungsmodell um ein Transformationsmodell zu ergänzen.
Wenn psychische Spaltungen nicht aufgearbeitet werden, setzen sie sich möglicherweise über Generationen fort, indem traumatisierte Menschen andere Menschen, z.B. ihre eigenen Kinder, wieder traumatisieren.

© Georg Tetmeyer