Trauma-Pädagogik

Trauma im pädagogischen Alltag

Was im pädagogischen Alltag vor sich geht, wenn Beziehungen gelingen oder wenn die Dinge außer Kontrolle geraten, lässt sich vor dem Hintergrund des Spaltungsmodells besser verstehen: Treffen die gesunden Anteile der Kommunikationspartner aufeinander, ist ein konstruktiver Dialog zu erwarten. Wird jedoch der traumatisierte Anteil des Gegenübers – und sei es nur versehentlich – getriggert, hat dieser nicht mehr die Freiheit der autonomen Entscheidung, sondern reagiert aus seinem Trauma heraus unkontrolliert. Fatal wirkt es sich aus, wenn beide Dialogpartner traumatisiert sind und ihre traumatisierten Anteile aufeinander treffen: Die dadurch freiwerdenden Traumaenergien können über Demütigung, Mobbing und Intrigen bis zur physischen Gewalt gehen und zwingen den Unterlegenen, sich erneut zu spalten.

Traumapädagogik und Traumafachberatung

Eine ressourcenorientierte Traumaarbeit an den Schulen für die Schüler, für die Referendare und zur Erhaltung der Lehrergesundheit für das Kollegium halte ich für unabdingbar. Allen Beteiligten am pädagogischen Lernprozess sollten Methoden zur psychischen Stabilisierung der anvertrauten jungen Menschen, vor allem jedoch auch zur psychischen Selbststabilisierung an die Hand gegeben werden, um in schulischen Belastungssituationen weiterhin professionell reagieren zu können.
Voraussetzung dafür ist eine gesellschaftliche Aufklärung über das gewaltige Ausmaß von Trauma, das leider zu unserem Alltag gehört. Der in der wissenschaftlichen Psychologie mittlerweile erarbeitete erweiterte Traumabegriff zeigt beispielsweise die verheerenden, d.h. traumatischen Folgen von Vernachlässigung auf. Wir vertreten die Auffassung, dass wir eine allgemeine Traumapädagogik als kritische Theorie der Gesellschaft brauchen. Franz Rupperts Buch mit dem Titel „Wer bin Ich in einer traumatisierten Gesellschaft?“ (Stuttgart: Klett-Cotta, 2018) zeigt die Notwendigkeit eines solchen gesellschaftlichen Umdenkens eindringlich auf.

Traumasensible pädagogische Kompetenz

Es liegt deshalb in unserer pädagogischen Verantwortung, die psychischen Spaltungen bei den uns anvertrauten jungen Menschen, bei unseren Kolleginnen und Kollegen, und vor allem natürlich bei uns selbst besser wahrzunehmen, um förderliche Beziehungen zu gestalten. Die Prozesse, welche durch die traumazentrierten Seminare und Einzelarbeiten in Gang kommen, können durch Körper- und Gesprächstherapie förderlich unterstützt werden.
Die Seminare dienen der Erweiterung der Selbstkompetenz und der pädagogischen Sozialkompetenz gleichermaßen. Neben der traumapädagogischen Stabilisierungstechnik ist die Stellvertretermethode ein sehr effizientes Instrument, um sowohl externale als auch internale Beziehungsstrukturen zu erkennen. Das Ziel ist es, durch die Bewusstmachung der Kohärenzen und der Interferenzen zwischen Lehrerbiografie und Traumabiografie (siehe meine Pfullinger Thesen zur Lehrergesundheit unter „Vorträge“ auf dieser Homepage), die individuelle Lehrergesundheit nachhaltig zu fördern.
Konzeptuell arbeiten wir intensiv an der Erweiterung des bislang ausschließlich psychologisch gebrauchten Begriffs „Traumapädagogik“ in doppelter Hinsicht: Wir verstehen darunter im erweiterten Sinne erstens eine neu zu entwickelnde traumabewusste Schulpädagogik, und zweitens eine Allgemeine Traumapädagogik als neu zu entwickelnder Gesellschaftspädagogik. Damit ist eine Kritische Theorie der Gesellschaft gemeint, welche über die spezifische Dynamik der zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Kommunikation unter Traumabedingungen, d.h. unter Bedingungen der psychischen Spaltung, aufklärt und auf ein allgemeines Traumabewusstsein, ähnlich dem heutigen Umweltbewusstsein, hinarbeitet (Vgl. Franz Ruppert, Wer bin Ich in einer traumatisierten Gesellschaft?, Stuttgart: Klett-Cotta, 2018). Hier sind zahlreiche Teildisziplinen wie beispielsweise eine historische Traumaforschung denkbar, Ansätze dazu finden sich bereits (vgl. Herfried Münkler, Der Dreißigjährige Krieg. Europäische Katastrophe, deutsches Trauma 1618 – 1648, Berlin: Rowohlt, 2017).

Warum immer noch nur wenige Menschen diesen Weg gehen wollen, ist gerade in einer Zeit ökonomisierten Denkens ziemlich unverständlich. Denn, ohne diesem Mainstream damit etwa noch Vorschub leisten zu wollen, so muss man doch schlicht die Tatsache ansprechen, dass traumatisch bedingte psychische Spaltung unglaublich viel Energie dadurch bindet, dass die Traumagefühle permanent unterdrückt werden müssen, um die Spaltung aufrechtzuerhalten. Der Psychotraumaforscher Robert Scaer spricht hier sogar von psychischen Kapseln. Diese Energie nicht erschließen zu wollen, weil die Traumaarbeit vermeintlich so schambesetzt und schmerzhaft sei, stattdessen lieber die verbliebene Restenergie desto rücksichtsloser auszubeuten, ist eigentlich völlig paradox. Das ist in etwa so widersinnig, wie wenn man mit nur einem Düsentriebwerk fliegen wollte und dazu bereit wäre, es gefährlich zu überhitzen, statt ganz einfach das stillliegende zweite Triebwerk dazu zu schalten und ruhig weiterzukommen. Wer im Sinne eines personal development starke Kraftreserven in sich erschließen will, braucht keine professionalisierte Selbstausbeutung, sondern eine Auseinandersetzung mit seinen traumabedingt psychisch abgespaltenen Anteilen. Um es etwas humorvoll-ironisch in der Sprache unserer Zeit auszudrücken: Mit Hilfe der Traumaarbeit kann man die Kapseln, die man bislang als psychische Fremdkörper mit sich herumträgt, durch Integration der in ihnen gefangenen Traumaerfahrung buchstäblich in Nuggets verwandeln! Hier lohnt es sich, nach psychischen Bitcoins zu schürfen. Wenn man das aber nicht macht, bleiben diese Trauma-Kapseln einfach nur psychische Thromben, die nicht nur den Zugang zu den gesunden Gefühlen, sondern auch zum gesunden Denken verstopfen.

Trauma-Screening als Produktivitätsfaktor
Natürlich ist Trauma-Mining zunächst schmerzhaft, aber letztlich nicht nur für jeden Einzelnen, sondern sowohl betriebswirtschaftlich als auch volkswirtschaftlich gesehen höchst lukrativ. Denn die in unserer Psyche abgespaltenen Trauma-Kapseln (die Trauma-Thromben) sind totes Kapital! Es ist kaum zu verstehen, dass große Konzerne dieses riesige Leistungspotential ihrer Belegschaft einfach brach liegen lassen, indem sie am Tabu festhalten, Trauma bloß ja nicht thematisieren zu wollen (Sollte es denn in diesem System tatsächlich etwas geben, das größer ist als die Gier nach Gold: die Furcht vor dem eigenen Trauma?). „Die Kosteneffektivität, die erzielt wird, wenn für Trauma-Heilungsseminare gesorgt wird, wiegt bei weitem die Kosten der Versuche auf, niedrige Arbeitsmoral und Verwirrung unter Teammitgliedern und die eventuelle Störung der Effektivität und Produktivität des Teams zu reparieren“, so David Berceli in seinem 2005 erschienenen Buch „Trauma Releasing Exercises“ (TRE), dt. Ausgabe bei niba-ev.de, S. 69.
Regelmäßiges Trauma-Screening sollte für ein Unternehmen so selbstverständlich sein wie ein routinemäßiger Anti-Viren-Scan für den Computer. Regelmäßiges Trauma-Screening halten wir besonders auf den Führungsebenen der Wirtschaft für absolut unabdingbar. Nur so kann man sichergehen, dass diese mit weitreichenden Befugnissen versehenen herausgehobenen Mitarbeiter nicht traumabedingt betriebsschädliche Täter-Opfer-Dynamiken auslösen und andere darin verstricken. Keine sogenannte „Führungskraft“ (ein leider gebräuchlicher, aber unglücklicher Begriff, da er in Deutschland faschistische Konnotationen hat) sollte mit Verantwortung für andere betraut werden, bevor sie nicht Verantwortung für sich selbst übernommen und nachweislich ihre eigene Traumabiografie gründlich aufgearbeitet hat.

Enttraumatisierung als gesellschaftliche Aufgabe
Trauma ist aber kein Imageproblem – Trauma ist ein Massenphänomen. Längst weiß man, dass viel mehr Menschen durch katastrophale Beziehungen traumatisiert werden als durch Einzelereignisse. Gleichzeitig ist dies die Folge der geschichtlichen Ereignisse des 20. und 21. Jahrhunderts, durch welche ganze Völker nachhaltig traumatisiert wurden. Deshalb möchte man sich wünschen, dass zumindest unser Staat bald alles daransetzt, sich durch ein groß angelegtes Programm der gesellschaftlichen Enttraumatisierung von den Traumafolgen zweier Weltkriege und jahrzehntelanger politischer Spaltung in Ost und West endlich zu befreien. Das würde nicht nur unser Gesundheitswesen und unsere Justiz enorm entlasten, sondern diente letztlich dem Frieden. Es wäre eine soziale (!) Sprunginnovation – wie man heute sagen würde -, welche diesen Namen wirklich verdiente.

Traumapädagogik als Gesellschaftspädagogik
Konzeptuell arbeiten wir darüber hinaus intensiv an der Erweiterung des bislang ausschließlich psychologisch gebrauchten Begriffs „Traumapädagogik“ in doppelter Hinsicht: Wir verstehen darunter im erweiterten Sinne erstens eine neu zu entwickelnde traumabewusste Schulpädagogik, und zweitens eine Allgemeine Traumapädagogik als neu zu entwickelnder Gesellschaftspädagogik (David Berceli hat diese Idee zur Entschärfung des Nahost-Konflikts: Trauma Releasing Exercises (TRE), 2005, dt. Ausgabe bei niba-ev.de, Kap. 19, S. 72 ff.). Damit ist in Anspielung auf die Frankfurter Schule eine neue Kritische Theorie der Gesellschaft gemeint, welche über die spezifische Dynamik der zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Kommunikation unter Traumabedingungen, d.h. unter Bedingungen der psychischen Spaltung, aufklärt und auf ein allgemeines Traumabewusstsein, ähnlich dem heutigen Umweltbewusstsein, hinarbeitet (vgl. Franz Ruppert, Wer bin Ich in einer traumatisierten Gesellschaft?, Stuttgart: Klett-Cotta, 2018). Innerhalb dieser neuen traumabewussten Gesellschaftspädagogik könnten sich zahlreiche neue Teildisziplinen entwickeln – Ansätze zu einer speziellen Trauma-Ethik und zu einer historischen Traumaforschung finden sich bereits (vgl. Werner Theobald, Trauma und Ethik, in: Günther Seidler et al., Handbuch der Psychotraumatologie, Stuttgart: Klett-Cotta, 3. überarb. u. erw. Aufl. 2019, S. 727-741. Und: Herfried Münkler, Der Dreißigjährige Krieg. Europäische Katastrophe, deutsches Trauma 1618-1648, Berlin: Rowohlt, 2017).

Traumapädagogik als Schulpädagogik
Der Lehrer-Beruf ist ein Beziehungs-Beruf, und wir Lehrer sollten gerade in Zeiten, in denen aus Kostengründen vermeintlich personalextensive Unterrichtsformen favorisiert werden, nicht müde werden, dies zu betonen. Die Tatsache, dass pädagogische Arbeit bedeutet, Informationen nur auf der Grundlage gelingender Beziehungen erfolgreich vermitteln zu können, stellt die besondere Herausforderung unseres Berufes dar.
Insofern lähmt das heute gesellschaftlich immer noch aufrechterhaltene Trauma-Tabu besonders die Schule in ihrer Entwicklung (vgl. meine Vorträge unten zu diesem Thema). Gerade die Schule bedarf dringend der Selbstaufklärung über traumabedingte und letztlich krankmachende Kommunikationsdynamiken im Unterricht, im Kollegium oder in der Verwaltung, um gesunde und förderliche Bildungsprozesse anstoßen zu können. Das Trauma-Tabu, dass sowohl Schüler als auch Lehrer, sowohl Vorgesetzte als auch Politiker traumatisiert sein können, muss endlich fallen! Schließlich darf bei der kritischen Frage, inwieweit die Gesellschaft selbst uns traumatisiert (Ruppert 2018), auch das schulische System nicht ausgeklammert bleiben. Hermann Hesses Romane „Unterm Rad“ und „Der Steppenwolf“ führen uns eindrücklich die tragischen Spätfolgen schulischer Traumatisierungen in der Wilhelminischen Ära vor Augen. Thematisiert Hesse in diesen Romanen emotionalen Missbrauch und direkte körperliche Gewalt in der Erziehung, so müsste man sich heute fragen, was es mit Kindern macht, wenn die strukturelle Gewalt ökonomistischer und technizistischer Prämissen in der Schule allgegenwärtig wird. Beispielsweise ist noch lange nicht erkannt, welche Traumafolgen es für Kinder hat, wenn sie doppelter Virtualität ausgesetzt sind: der natürlichen biologischen ihres Gehirns – und innerhalb dieser biologischen Virtualität gleichzeitig der technisch-künstlichen Virtualität durch exzessiven Medienkonsum.
Das pädagogische Trauma-Screening ist gleichermaßen Ausdruck von Verantwortung für unsere Schüler, wie für uns selbst als Lehrer, indem wir es für unsere Psycho-Hygiene nutzen, um auf eine gesunde Art beziehungsfähig zu bleiben.
Das systemische Trauma-Screening ist ein arbeitspolitisches Erfordernis. Aus dem pädagogischen und dem systemischen Trauma-Screening zusammen lässt sich die spezifische Belastung, die der Lehrerberuf als Beziehungsberuf mit sich bringt, objektiv ermessen. Das kann Grundlage für arbeitspolitische Forderungen sein.

Traumabewusster Unterricht
Nicht zuletzt bedürfen auch die Bildungsinhalte der traumapädagogischen Reflexion, wie Franz Ruppert in seinem Ende August 2019 erschienenen Buch am Beispiel eines Schulklassikers, Johann Wolfgang Goethes Ballade „Erlkönig“ (1782), eindrücklich zeigt. Dieses Gedicht kann man lesen als Protokoll aus der Perspektive des noch kindlichen Sohnes, wie er die sexuelle Gewalt seines psychisch gespaltenen Vaters erlebt: Der eine Anteil des Vaters täuscht seinen Knaben mit dem scheinbaren Angebot von Bindung über dessen realistische Angstgefühle hinweg, und macht sich so zum Komplizen des anderen Anteils, damit der sich solange an dem Kind sexuell vergehen kann („Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt; Und bist du nicht willig, so brauch‘ ich Gewalt“). Wo wir als Lehrer ignorant darüber hinwegsehen, dass wir unter Umständen Kinder mit genau solchen Erfahrungen im Unterricht vor uns haben, da fügen wir ihnen mit der verharmlosenden Interpretation des Gedichts als Kinderphantasie erneut Schmerzen zu (vgl. Franz Ruppert, Liebe Lust und Trauma, München: Kösel, 2019, S. 163 ff.; vgl. auch meine eigenen Hinweise zur Schullektüre auf dieser Homepage). Noch der renommierte Traumaforscher Gottfried Fischer, der das berühmte Gedicht ebenfalls zur Illustration heranzieht, zeigt sich blind für das wirkliche Leiden des Opfers, und tut damit genau das selbst, was er dem Vater vorwirft: Um dem sog. „Erlkönig-Effekt“ zu entgehen, welcher darin bestehe, dass der Vater „es vermeidet, sich in die Angstwelt des Jungen hineinzuversetzen“, rät Fischer gutmeinend dazu, „auch auf ‚irrationale‘ Ängste und Fantasien zu hören“ (Gottfried Fischer, Neue Wege aus dem Trauma, Ostfildern: Patmos, 11. Aufl. 2019, S. 76). Das Täterschutz-Programm, welches auf prägende patriarchale gesellschaftliche und religiöse Modelle zurückgeht, sitzt uns offenbar noch immer genauso tief in den Köpfen wie die überholte Vorstellung, die Person eines Menschen, hier z.B. des Vaters, sei eine Einheit.

Ich statt Ego – Bildung statt Ausbildung
Es ist an der Zeit, dass sich die Schule löst vom Paradigma einer weitgehend an den Interessen der Groß-Investoren orientierten Wirtschaft. Die Schule muss sich wieder befreien von ihrer neoliberalen Überformung als Produktionsstätte für industrie- und wirtschaftskompatible, marktkonforme Arbeitnehmer, denen man einreden kann, sie seien ihre eigenen Unternehmer. Die traumaignorante Identifikationspädagogik, welche einer Wirtschaftsideologie folgend das interessegeleitete Ego in den Mittelpunkt stellt, sollte schon aus gesundheitlichen Gründen, aber letztlich im Interesse des Friedens abgelöst werden durch eine traumabewusste identitätsorientierte Pädagogik, in deren Mittelpunkt das bindungs- und beziehungsfähige Ich steht. Anstelle der Zweckorientierung muss wieder die Bildungsorientierung in den Vordergrund rücken (vgl. dazu den Vortrag von Prof. Jürgen Kegelmann in SWR2 Wissen/Aula: „Musterschüler – Was Schulen und Hochschulen heute leisten müssen“, Sendung: Sonntag, 8. September 2019, 8.30 Uhr).

Trauma als Schlüsselbegriff des 21. Jahrhunderts
Trauma ist kein Randthema mehr, welches anscheinend auch nur Randgruppen, wie etwa politische Flüchtlinge betrifft; vielmehr betrifft Trauma beinahe jeden direkt oder indirekt. Trauma ist der Schlüsselbegriff des 21. Jahrhunderts! Unser Plädoyer gilt daher einer post-neoliberalen traumabewussten Pädagogik. So laden wir besonders Pädagogen und pädagogische Einrichtungen zur Zusammenarbeit ein.

© Georg Tetmeyer